Medikamente im Alter – PRISCUS 2.0

Arzneimittelsicherheit
Auf dem Beipackzettel sind sie alle aufgeführt: die möglichen Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und Gegenanzeigen eines Medikaments. Dabei zeigt sich: Manche Medikamente sind für bestimmte Altersgruppen und bei bestimmten Vorerkrankungen nicht geeignet. Ältere Patienten sind hiervon besonders häufig betroffen. Zu ihrem Schutz existieren Listen, auf denen die Medikamente aufgeführt werden, die für ältere Menschen bedenklich sind.
PIM: Die Abkürzung steht für „potenziell inadäquate Medikation“. Damit sind Medikamente gemeint, die für ältere Menschen möglicherweise ungeeignet sind. Es geht also um die Arzneimittelsicherheit, genauer um Wirkstoffe, die insbesondere bei älteren Patienten unerwünschte und zum Teil heftige Nebenwirkungen auslösen können.
Bei der Frage nach möglichen Nebenwirkungen und der Sicherheit eines Medikaments schaut man zunächst auf den Beipackzettel. Dort findet sich eine Liste mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen, sortiert nach der Häufigkeit ihres Auftretens von sehr häufig bis sehr selten. Nächster wichtiger Punkt sind mögliche Wechselwirkungen. Hier ist aufgeführt, welche anderen Arzneistoffe oder auch Nahrungsmittel die Wirkung beeinflussen und damit problematisch sein können. Schließlich gibt es noch den Absatz mit den Gegenanzeigen, in dem Erkrankungen, Therapien und Lebensumstände benannt sind, bei denen das Arzneimittel gar nicht angewendet werden darf.
All diese Listen machen deutlich: Die Wirkung von Medikamenten ist ebenso wie das Auftreten von Nebenwirkungen sehr individuell. Der allgemeine Gesundheitszustand und auch das Körpergewicht können z. B. Einfluss darauf haben, wie gut der Wirkstoff aufgenommen und verarbeitet werden kann. Auch das Alter kann eine Rolle spielen.
Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneistoffen im Alter
In der Fachsprache werden sämtliche Prozesse, denen ein Arzneistoff im Körper unterliegt, also seine Aufnahme (Absorption), die Verteilung im Körper (Distribution), der biochemische Um- und Abbau (Metabolisierung) sowie die Ausscheidung (Exkretion), als Pharmakokinetik bezeichnet. Der Begriff Pharmakodynamik fasst zusammen, auf welche Weise ein Arzneistoff wirkt und die verschiedenen biochemischen und physiologischen Vorgänge im Körper beeinflusst. Der normale Alterungsprozess bringt es mit sich, dass sich sowohl die Pharmakokinetik als auch die Pharmakodynamik verändert.
So steigt beispielsweise im Alter der Anteil an Körperfett, während der Anteil an Körperwasser sinkt. Das führt u. a. dazu, dass die Konzentration eines Wirkstoffs im Blut – man bezeichnet dies auch als Wirkstoffspiegel – bereits kurz nach der Einnahme höher ist als bei jungen Menschen. Aufgrund nachlassender Stoffwechselaktivität und Leistungsfähigkeit der Organe werden Medikamente langsamer abgebaut, so dass über längere Zeit ein hoher Wirkstoffspiegel erhalten bleibt. Daher kann es wichtig sein, dass die Dosierung bei älteren Menschen entsprechend angepasst wird. Außerdem gibt es bestimmte Wirkstoffe, auf die ein älterer Organismus empfindlicher reagiert. Das hängt u. a. mit altersabhängigen Funktionsveränderungen der Organe und Veränderungen im Stoffwechsel zusammen.
Und noch ein Umstand erhöht das Risiko für Nebenwirkungen im Alter: Statistiken zeigen, dass etwa zwei Drittel der Menschen in der Altersgruppe 65+ an drei oder mehr behandlungsbedürftigen chronischen Erkrankungen leiden. Das bedeutet, im Alter ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass nicht nur ein Medikament, sondern mehrere Medikamente eingenommen werden. Mit der Anzahl der Medikamente steigt auch das Risiko von Nebenwirkungen, zumal es sein kann, dass sich die Nebenwirkungen mehrerer Präparate aufaddieren (s. Kasten). Außerdem sind, wenn viele verschiedene Medikamente eingenommen werden, auch mehr unerwünschte oder gar gefährliche Wechselwirkungen möglich.
Aufsummierte Nebenwirkungen
Beispiel: anticholinerger Effekt
Müssen mehrere Medikamente mit gleichen Nebenwirkungen eingenommen werden, so können sich die unerwünschten Wirkungen aufaddieren. Wenn z. B. alle Medikamente müde machen und die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen, kann dies zu ernsthaften Problemen führen.
Bei älteren Patienten sind vor diesem Hintergrund u. a. Wirkstoffe mit sogenannten anticholinergen Nebeneffekten zu beachten. Dazu gehören Symptome wie Mundtrockenheit, Verstopfung, Sehstörungen und Steigerung der Herzfrequenz. Werden mehrere Wirkstoffe mit diesem Effekt eingenommen, kann sich ein sogenanntes anticholinerges Syndrom mit Schwindel, Sehstörungen, Verwirrtheit und Kreislaufinstabilität ausbilden.
So viel zum Hintergrund. Nun zur Begrenzung des Risikos.
PIM-Listen
Um die Arzneimittelsicherheit bei älteren Patienten zu optimieren, haben Wissenschaftler Medikamente, die für Ältere riskant sein könnten, in sogenannten PIM-Listen zusammengetragen. In Deutschland wurde im Jahr 2010 eine erste solche Liste veröffentlicht. Die PRISCUS-Liste, benannt nach einem Forschungsverbund, der sich mit verschiedenen Projekten zum Thema „Gesundheit im Alter“ beschäftigt, umfasst 83 Medikamente und nennt Therapiealternativen. Zudem gibt es Handlungsempfehlungen für den Fall, dass die Verordnung des kritischen Arzneimittels unvermeidbar ist. Das sind z. B. Dosierungsvorschläge und Überwachungshinweise. Für Ärzte ist die PRISCUS-Liste zu einem wichtigen Instrument bei der Therapieplanung geworden. In Deutschland ist, wie Analysen zeigen, die Zahl der Verordnungen von PIMs in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
Medikationsplan
Damit Patienten, die mehrere Medikamente einnehmen müssen, nicht den Überblick verlieren, bekommen sie von ihrem Arzt einen Medikationsplan. Dieser Plan ist einheitlich nach einem festen Standard gestaltet und enthält alle wichtigen Informationen: Handelsnamen der Präparate, Inhaltsstoffe sowie Anwendungs- und Dosierungsvorgaben. Diese Übersicht unterstützt die Patienten bei der korrekten Einnahme ihrer Medikamente. Zugleich kann jeder weitere behandelnde Arzt bei einer Neuverordnung zunächst prüfen, ob eventuell ein Risiko für Wechselwirkungen besteht.
Wichtig ist, dass jeder Arzt die von ihm verordneten Medikamente aktuell in den Plan einträgt und auch alle frei verkäuflichen Arzneien, Nahrungsergänzungsmittel und naturheilkundlichen Präparate eingetragen werden.
Stehen alle Medikamente, die eingenommen werden, auf der Liste, ist natürlich auch eine Kontrolle hinsichtlich PIM leichter möglich.
Weitere Informationen zum Medikationsplan: www.bundesaerztekammer.de
PRISCUS 2.0
Seit Anfang des Jahres liegt mit PRISCUS 2.0 nun eine umfassende Überarbeitung der Liste vor. Dass sich in über 10 Jahren sowohl bei der Arzneimitteltherapie als auch auf dem Arzneimittelmarkt einiges verändert hat und man mehr Daten zu Nebenwirkungsprofilen verschiedener Arzneistoffe hat, verwundert nicht. Dass sich die Zahl der potenziell inadäquaten Medikation jedoch von 83 auf 177 mehr als verdoppelt hat, ist schon bemerkenswert.
Auch jetzt, so betonen die Autoren, erhebt die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie weisen außerdem ausdrücklich darauf hin, dass eine PIM-Liste nicht als allgemeingültige Negativ- oder Verbotsliste gesehen werden darf. Abhängig von der individuellen Situation, kann für manche ältere Patienten die Verordnung eines Medikaments von der Liste notwendig sein. Dies zu entscheiden, bleibt Aufgabe der behandelnden Ärzte. Die PRISCUS-Liste kann jedoch dazu beitragen, den Medikationsplan eines älteren Patienten regelmäßig kritisch zu hinterfragen. Da die Listen öffentlich zugänglich sind und z. B. auf der Internetseite des Projekts heruntergeladen werden können, ist dies allen, die an der Patientenversorgung beteiligt sind, möglich. Damit erhöht sich die Chance, dass PIMs frühzeitig auf Medikationsplänen (s. Kasten oben) älterer Patienten entdeckt werden. Nach Rücksprache und in Zusammenarbeit mit allen behandelnden Ärzten lässt sich klären, ob dies wissentlich und nach medizinischer Nutzen-Risiko-Abschätzung erfolgt ist. Wenn nicht, lässt sich u. U. die medikamentöse Therapie optimieren.
Verbesserung der Arzneimittelsicherheit: Meldung von Nebenwirkungen
Viele Patienten scheuen sich davor, die möglichen Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel zu lesen, und wollen gar nicht so genau wissen, welche unerwünschten Wirkungen das Medikament haben kann. Wenn jedoch plötzlich Beschwerden auftreten, die im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme stehen können, sollte jeder aufmerksam werden und Rücksprache mit dem Arzt halten. Das dient der eigenen Gesundheit. Zudem kann die Meldung dazu beitragen, die Sicherheit des Arzneimittels zu verbessern.
In Deutschland und in der Europäischen Union gelten strenge Richtlinien für die Zulassung von Medikamenten. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass seltene oder sehr seltene unerwünschte Wirkungen, Wechselwirkungen oder Gegenanzeigen in klinischen Prüfungen nicht erkannt werden. Manche Risiken werden tatsächlich erst nach langjährigen Anwendungsbeobachtungen bei den unterschiedlichsten Patiententypen offenbar. Aus diesem Grund sieht das Arzneimittelgesetz vor, dass nach der Zulassung eines Arzneimittels die Erfahrungen bei seiner Anwendung fortlaufend und systematisch gesammelt und ausgewertet werden. Die pharmazeutischen Unternehmen sind demnach verpflichtet, bekanntgewordene Nebenwirkungen unverzüglich zu melden. Ärzte, Apotheker und Pflegefachkräfte, die Nebenwirkungen feststellen, haben ebenfalls eine Meldepflicht. Patienten oder deren Angehörige, die den Verdacht haben, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen auftreten, sollten dies dem Arzt oder Apotheker mitteilen. Sie können den Verdacht aber auch selbst beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte melden. Unter https://nebenwirkungen.bund.de gibt es einen Online-Meldebogen.
Mit Hilfe dieser fortlaufenden Erhebungen kann das Nebenwirkungsprofil eines Arzneimittels entsprechend dem aktuellen Wissensstand stets neu bewertet werden. Möglicherweise lassen sich nach Analyse der gemeldeten Daten bestimmte Risikogruppen ausmachen oder es ist ein Zusammenhang zwischen unerwünschten Arzneimittelereignissen und dem Alter der behandelten Patienten ersichtlich. Mitunter werden Kontrollstudien angeordnet oder die Zulassung wird für Patienten aus neu erkannten Risikogruppen eingeschränkt oder sogar ganz zurückgezogen.
PRISCUS
Weitere Informationen zum PRISCUS-Projekt und den Projektpartnern sowie die Links zum Download der PRISCUS-Listen finden Sie unter: www.priscus2-0.de