Trauer – nichts ist normal
Umgang mit Trauer, Trauerunterstützung und -begleitung
Jeder erlebt im Laufe seines Lebens schmerzhafte Verluste, die Trauer auslösen. Die Trauer um einen geliebten Menschen ist eine der tiefgreifendsten Erfahrungen. Für den Umgang mit der Trauer gibt es kein Rezept. Trauer braucht Zeit – wie viel Zeit, lässt sich vorher nicht sagen.
„Können Sie Ihre Trauer beschreiben?“ Auf diese Frage finden Betroffene, die um einen geliebten Menschen trauern, ganz unterschiedliche Antworten: große Leere, unendliche Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit, Angst, Einsamkeit und Beklemmung – ein Gefühlschaos, das in Wellen kommt und geht. Mitunter ist die Trauer auch körperlich spürbar. Sie kann Schlafstörungen, Appetitmangel, Magenschmerzen und Schüttelfrost auslösen, zu Teilnahmslosigkeit oder auch Überaktivität führen – auch das ohne jegliches Muster.
So unterschiedlich wie die seelischen und körperlichen Reaktionen auf den Verlust, so verschieden und wechselhaft sind auch die Bedürfnisse der Trauernden. Mal möchte man alleine sein, mal wünscht man sich Beistand von Angehörigen und Freunden, möchte seine Trauer mitteilen und über den Verstorbenen und die Bedeutung seines Verlustes reden. Um deutlich zu machen, dass sich Trauer mit der Zeit verändert, wird häufig von Trauerphasen oder vom Trauerprozess gesprochen. Dieser Prozess kennt ebenfalls keinen Ablaufplan. Er endet auch nicht. Vielmehr wird der Umgang mit dem Verlust ein anderer, sobald man akzeptiert, dass das Leben nun ohne den Verstorbenen stattfindet und das Gemeinsame Erinnerung ist.
Lässt sich gut trauern?
Es gibt viele Ratschläge für den Umgang mit Trauer sowie für die Begleitung von Trauernden. Eine Orientierung hierzu bietet die Internetseite www.gute-trauer.de. Die Diplompsychologin und Trauerforscherin Heidi Müller gehört zum Projektteam dieses Trauerportals. Die dort veröffentlichten Informationen sollen Menschen helfen, eigenverantwortlich mit Lebenssituationen wie Tod und Trauer umzugehen. Zugleich werden Trauernde, die sich Trauerbegleitung oder -beratung wünschen, bei der Suche nach Hilfe unterstützt. Im nachfolgenden Interview erklärt Heidi Müller, was den Prozess des Trauerns ausmacht und dass dieser Prozess u. U. sehr viel länger dauert, als Trauernde meinen.
Interview mit Trauerforscherin Heidi Müller
Heidi Müller arbeitet als Wissenschaftlerin im Bereich der Trauerforschung. Sie ist Vorsitzende des Bereavement Network Europe (BNE), Lehrende der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und unter anderem Herausgeberin des Newsletters „Trauerforschung im Fokus“.
Trauer ist individuell
Menschen trauern unterschiedlich. Kann man unterschiedliche „Trauertypen“ identifizieren, sind Muster beim Trauern erkennbar?
Heidi Müller: Menschen, Verlustsituationen und zwischenmenschliche Beziehungen sind verschieden. Unter anderem aus diesen Gründen fallen Trauerprozesse immer wieder anders und somit ganz unterschiedlich aus. Manchmal meinen wir, bestimmte Muster wahrnehmen zu können, was den Umgang mit Verlusten betrifft. Mir sind jedoch keine wissenschaftlichen Studien bekannt, die das Auftreten von Mustern oder „Trauertypen“ belegen. Dennoch gibt es, wenn man so möchte, ein „Muster“, das Menschen eint: Wir alle können trauern. Es ist eine uns angeborene Eigenschaft, wir brauchen sie nicht erst zu erlernen.
Können Sie erklären, was es mit dem Modell der Trauerphasen auf sich hat? Gilt das Modell noch?
Heidi Müller: Phasenmodelle waren in den 60er Jahren ein erster Versuch zu erklären, wie Menschen Verluste verarbeiten. Heute wissen wir, dass diese Erklärungsversuche zu kurz greifen. Denn zahlreiche wichtige Aspekte wie etwa das Dosieren, Vermeiden/Verdrängen oder „sich Pausen vom Trauern zu nehmen“ bleiben dabei unberücksichtigt. Phasenmodelle sind wissenschaftlich nicht bewiesen und können irreführende Vorstellungen bei Betroffenen erzeugen. Aus diesem Grunde ist es hilfreich, sich nicht an ihnen zu orientieren.
Die Frage, wie Menschen Verluste verarbeiten, wurde in den 1990er Jahren mit dem Dualen Prozessmodell der Bewältigung von Verlusterfahrungen (DPM) neu beantwortet. Demnach sind Betroffene durch einen Verlust mit zwei Arten von Herausforderungen (Stressoren) konfrontiert. Zum einen können der Verlust an sich und die Bindung zur verstorbenen Person bei den Betroffenen Stress erzeugen. Zum anderen können die Herausforderungen des neuen Alltags/ des neuen Lebens, wie etwa „alleine zu sein“, Stress erzeugen. Um mit den Herausforderungen umgehen zu können, ist es nötig, den damit auftretenden Stress zu regulieren und zu dosieren. Das hilft dabei, sich nicht überfordert zu fühlen. Weiterhin können sich Betroffene nicht gleichzeitig mit allen Herausforderungen auseinandersetzen. Sie widmen sich entsprechend mal dem einen, mal dem anderen Stressor und pendeln im besten Falle zwischen den beiden Arten von Stressoren hin und her. Dieses Pendeln trägt zu einem „gelingenden“ Trauerprozess bei. Da Trauerprozesse häufig anstrengend sind, ist es zudem wichtig, sich immer wieder Erholungspausen zu nehmen.
Gehen Männer anders mit einem Verlust um als Frauen? Gibt es hier „Muster“?
Heidi Müller: Verluste können für Frauen wie für Männer gleichermaßen belastend sein. Gesundheitliche Probleme können bei beiden Geschlechtern als Folge auftreten. Geschlechterunterschiede bezüglich der Verlustverarbeitung werden immer wieder diskutiert. Eindeutige Belege dafür gibt es bislang nicht, weil die durchgeführten Untersuchungen zu widersprüchlichen Ergebnissen kamen.
Das Thema Tod ist in Familien und Partnerschaften oftmals ein Tabu. So kommt es, dass der Tod eines Angehörigen Fragen aufwirft und manchmal sogar Unfrieden in Familien stiftet. Warum haben so viele Menschen Probleme, über das Thema zu sprechen?
Heidi Müller: Die Gesellschaft hat ein sehr distanziertes Verhältnis zu den Themen Sterben, Tod und Trauer. Das erzeugt häufig Unsicherheit im Umgang mit den Themen. Dennoch wird in unserer Gesellschaft über das Thema gesprochen. Das zeigt auch ein Blick in die Medienlandschaft. Vielleicht nicht immer in dem Maße, wie sich das Betroffene wünschen, und auch nicht von jeder Person, aber grundsätzlich ist vielen ein Austausch möglich. Das stellt die Vorstellung, Trauer sei ein Tabu, infrage.
Die Schwierigkeiten innerhalb von Familien und Partnerschaften haben zahlreiche Ursachen. So versuchen sich etwa Partner*innen gegenseitig zu schützen, indem sie kaum über den Verlust sprechen. Leider ist häufig das Gegenteil der Fall. Die Sprachlosigkeit erhöht die Belastung bei beiden.
Menschen trauern unterschiedlich. Das gilt auch für Familienmitglieder. Während es die einen etwa ans Grab zieht, möchten die anderen lieber Sport treiben. Der Umgang mit Verlusten innerhalb von Familien ist eine Art Aushandlungsprozess, bei dem nicht immer alle Familienmitglieder einer Meinung sind oder ähnliche Bedürfnisse haben. Aber es gibt auch zahlreiche andere Aspekte wie etwa den Umgang mit Konflikten, die Kommunikationsweise innerhalb von Familien, finanzielle Probleme, die zu Schwierigkeiten führen können.
Wie kann ich Trauernde unterstützen? Haben Sie einen Rat, wie ich mit der Trauer von anderen umgehen kann?
Heidi Müller: Die Bedürfnisse von Betroffenen sind sehr unterschiedlich. Deshalb ist es sinnvoll, Trauernde zu fragen, was man für sie tun kann. Weiterhin ist es positiv, diese Frage wieder und wieder über Monate, gar Jahre zu stellen bzw. sich immer wieder selbstständig bei den Betroffenen zu melden. Trauerprozesse dauern häufig länger, als das soziale Umfeld und auch Betroffene selbst meinen. Wenn wir uns immer wieder melden, zeigen wir Betroffenen, dass wir sie nicht vergessen haben. Wenn Menschen aus dem sozialen Umfeld die Worte fehlen, ist das auch nicht schlimm. Eine Umarmung sagt häufig mehr als viele Worte. Das Schlimmste, was wir tun können, ist, uns nicht zu melden oder nicht mehr über die verstorbene Person zu sprechen. Das verletzt Trauernde sehr. Wenn wir Betroffene insgesamt so wenig wie möglich bewerten, ist das auf jeden Fall ein erster positiver Schritt. Denn Trauernde geben ihr Bestes, um für sich einen guten Weg zu finden.
Informationen zur Trauerforschung: www.trauerforschung.de