Wirkprofil von Medikamenten – kein Patient ist wie der andere

arzneiArzneimittelsicherheit für ältere Patienten

Für viele ältere Menschen sind Medikamente ein ständiger Begleiter. Nicht ein Präparat, im Regelfall sind es mehrere verschiedene Mittel, die regelmäßig eingenommen werden. Manches Medikament führt jedoch nicht nur zur gewünschten Wirkung, sondern hat gefährliche Nebeneffekte. Überdosierung und Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen können Gründe hierfür sein, möglicherweise ist der Wirkstoff auch schlichtweg ungeeignet für den alternden Organismus.

Immer mehr Menschen erreichen bei guter Gesundheit ein hohes Lebensalter. Keiner wird jedoch die altersbedingten körperlichen Veränderungen gänzlich ignorieren können. Der Stoffwechsel und die Funktionsfähigkeit der verschiedenen Organsysteme verändern sich und führen schleichend zu einem Nachlassen des Leistungsvermögens. Damit steigt die Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen. Hinzu kommen möglicherweise Spätfolgen nicht vollständig auskurierter Erkrankungen oder auch gesundheitsschädigender Einflüsse und Lebensgewohnheiten. Tatsache ist: Viele ältere Menschen müssen regelmäßig Medikamente einnehmen, und zwar sehr häufig mehrere verschiedene Präparate. So ist in Deutschland die Altersgruppe der über 60-Jährigen der Hauptabnehmer von Medikamenten. Ungeachtet dessen bleibt bei der Zulassung mancher Arzneimittel sowie bei deren Verordnung unberücksichtigt, dass der Arzneistoff bei älteren Menschen anders wirkt als bei jungen oder dass in Kombination mit anderen Präparaten ungewollte Wechselwirkungen auftreten können.

Veränderte Pharmakokinetik und -dynamik

Zulassung von Medikamenten

Bevor ein neues Medikament die Zulassung erhält, muss es verschiedene Prüfungsphasen durchlaufen und genau festgelegte Kriterien erfüllen. Zunächst wird der Wirkstoff im Labor im Reagenzglas, an Zellkulturen und an Tieren getestet. Hat sich die Substanz bei den Laboruntersuchungen bewährt, folgen klinische Studien. Dabei wird überprüft, wie der Wirkstoff vom menschlichen Organismus aufgenommen, verteilt, umgewandelt und wieder ausgeschieden wird und ob er prinzipiell gut verträglich ist. In der ersten Phase der klinischen Studien sind die freiwilligen Testpersonen in der Regel gesunde junge Männer. Erst in Phase II und III wird der Arzneistoff bei Patienten angewandt. Dabei wird versucht, möglichst unterschiedliche Patiententypen einzubinden, um ein möglichst aussagefähiges Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil zu erhalten. Kommt es während der klinischen Studien zu irgendeinem Zeitpunkt zu unvertretbaren Nebenwirkungen oder zeichnen sich sonstige Probleme und Bedenken ab, wird das Projekt abgebrochen.

Sind alle Tests erfolgreich bestanden, erfolgt die Zulassung durch die Arzneimittelbehörde und das Medikament kann auf den Markt kommen. Nun steigt die Zahl der Anwender und damit auch das Risiko, dass seltene, bislang unbekannte unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Daher werden nach der Zulassung eines Arzneimittels die Anwendungsbeobachtungen fortlaufend und systematisch gesammelt und ausgewertet und Nebenwirkungen dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bzw. der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) gemeldet.

Um das Wirkprofil eines Arzneimittels möglichst genau zu erfassen, braucht man zum einen Kenntnisse darüber, wie der Wirkstoff vom Körper aufgenommen und verarbeitet wird, zum anderen muss man wissen, welche Effekte die Substanz auf die verschiedenen Abläufe und Funktionen im Organismus hat. In der Fachsprache werden sämtliche Prozesse, denen ein Arzneistoff im Körper unterliegt, also seine Aufnahme (Absorption), die Verteilung im Körper (Distribution), der biochemische Umund Abbau (Metabolisierung) sowie die Ausscheidung (Exkretion) als Pharmakokinetik bezeichnet. Der Begriff Pharmakodynamik beschreibt, auf welche Weise ein Arzneistoff wirkt und die verschiedenen biochemischen und physiologischen Vorgänge im Körper beeinflusst.

Der normale Alterungsprozess bringt mit sich, dass sich sowohl die Pharmakokinetik als auch die Pharmakodynamik verändern. So steigt beispielsweise im Alter der Anteil an Körperfett, während der Anteil an Körperwasser sinkt. Das führt u. a. dazu, dass die Konzentration eines Wirkstoffs im Blut – man bezeichnet dies auch als Wirkstoffspiegel – bereits kurz nach der Einnahme höher ist als bei jungen Menschen. Da außerdem aufgrund nachlassender Stoffwechselaktivität und Leistungsfähigkeit der Organe Medikamente auch langsamer abgebaut werden, bleibt ein hoher Wirkstoffspiegel über längere Zeit bestehen. Zudem reagiert der Köper auf manche Wirkstoffe sehr viel empfindlicher. All dies kann dazu führen, dass das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen steigt.

Bei der Zulassung von Medikamenten finden diese Aspekte häufig nicht die notwendige Beachtung beziehungsweise sind die Kenntnisse über die Sicherheit von Arzneimitteln zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Zulassung nicht vollständig.

Arzneimittelsicherheit und -überwachung

Obwohl in Deutschland und in der Europäischen Union strenge Richtlinien zur Zulassung neuer Medikamente gelten (siehe Kasten), werden seltene oder sehr seltene unerwünschte Wirkungen, Wechselwirkungen oder andere Gefahren im Zusammenhang mit der Arzneimittelanwendung in klinischen Prüfungen üblicherweise nicht erkannt. Denn manche Risiken werden erst nach langjährigen Anwendungsbeobachtungen bei den unterschiedlichsten Patiententypen offenbar.

Um die höchstmögliche Arzneimittelsicherheit zu gewährleisten, sieht das Arzneimittelgesetz vor, dass nach der Zulassung eines Arzneimittels die Erfahrungen bei seiner Anwendung fortlaufend und systematisch gesammelt und ausgewertet werden. Die pharmazeutischen Unternehmen sind nach dem Arzneimittelgesetz verpflichtet, bekanntgewordene Nebenwirkungen unverzüglich zu melden. Für Ärzte und Apotheker besteht aus den jeweiligen Berufsordnungen ebenfalls eine solche Meldepflicht. Mit Hilfe dieser Erhebungen kann das Nebenwirkungsrisiko eines Arzneimittels entsprechend dem aktuellen Wissensstand stets neu bewertet werden. Mitunter werden Kontrollstudien angeordnet oder die Zulassung wird für Patienten mit bestimmten Vorerkrankungen eingeschränkt oder sogar ganz zurückgezogen.

Bedenkliche Arzneistoffe für Ältere

Dank sorgfältiger Analyse der gemeldeten Daten lässt sich auch feststellen, ob es einen möglichen Zusammenhang zwischen unerwünschten Arzneimittelereignissen und dem Alter der behandelten Patienten gibt. Dies könnte unter anderem auf den altersbedingt erhöhten Wirkstoffspiegel zurückzuführen sein. In diesem Fall müssen die Dosierungen bei älteren Menschen entsprechend reduziert werden. Es gibt jedoch auch Wirkstoffe, die aufgrund altersabhängiger Funktionsveränderungen der Organe, veränderter Aktivität und Stoffwechsellage vermehrt zu Nebenwirkungen führen und deshalb für Ältere gänzlich ungeeignet sind.

Arzneimittelsicherheit für alte Menschen

Projekt PRISCUS

Im Verbundprojekt PRISCUS (latein. "priscus": altehrwürdig) entwickeln Forscher in fachübergreifender Zusammenarbeit neue Therapieansätze und Versorgungsstrukturen für ältere, mehrfach erkrankte ("multimorbide") Menschen.

Unter dem Namen PRISCUS-Liste wurde eine Liste mit Medikamenten erstellt, die in Deutschland häufig verordnet werden, die aber von Experten als potenziell ungeeignet für die Behandlung von alten Menschen eingestuft werden. Derzeit sind auf der PRISCUSListe 83 Medikamente verzeichnet. Eine Broschüre mit den Wirkstoffen kann im Internet unter: https://www.bmbf.de/pub/Medikamente_im_Alter.pdf abgerufen oder beim Publikationsversand der Bundesregierung, Postfach 48 10 09, 18132 Rostock, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! bestellt werden.

Im Rahmen des Projektverbunds PRISCUS, der sich mit der Gesundheit und Gesundheitsversorgung alter Menschen befasst, haben Wissenschaftler eine Liste mit all jenen Medikamenten erstellt, die für ältere Menschen potenziell ungeeignet sind. Vorbild war die US-amerikanische "Beers- Liste". Diese Liste, erstmals 1991 in den USA veröffentlicht und inzwischen mehrfach aktualisiert, führt Medikamente auf, die bei der Behandlung von alten Menschen als riskant gelten. Allerdings lässt sich die "Beers-Liste" aufgrund der länderspezifischen Arzneimittelzulassungen und Verschreibungspraktiken nur sehr begrenzt auf Deutschland übertragen. Deshalb wurde als Bestandteil des Aktionsplans Arzneimittelsicherheit des Bundesministeriums für Gesundheit vor drei Jahren die Erarbeitung der PRISCUS-Liste gefördert.

"Im Prinzip haben wir ein riesiges Pharmakologiebuch für alte Menschen zusammengestellt", erklärt Projektleiterin Prof. Dr. med. Petra Thürmann vom Philipp-Klee- Institut für klinische Pharmakologie am HELIOS Klinikum Wuppertal. Das Team um Prof. Thürmann überprüfte zunächst die "Beers-Liste" sowie andere bereits publizierte Listen aus dem Ausland auf Übertragbarkeit auf den deutschen Markt. Gleichzeitig wurde eine umfangreiche Literaturrecherche durchgeführt, um Hinweise auf arzneimittelbezogene Probleme bei älteren Menschen zusammenzutragen. Die vorläufige Liste mit 131 häufig verordneten und möglicherweise bedenklichen Medikamenten für Ältere wurde Experten aus den unterschiedlichsten medizinischen Fachrichtungen zur Bewertung vorgelegt. Nach 2 Befragungsrunden stehen derzeit 83 Medikamente, die potenziell ungeeignet für alte Menschen sind, auf der PRISCUS-Liste.

Die PRISCUS-Mitarbeiter betonen, dass diese Liste weder Anspruch auf Vollständigkeit erhebt noch eine auf den einzelnen Patienten bezogene Nutzen-Risiko- Abwägung ersetzt. Sie soll vielmehr auf besondere Probleme bei der Arzneimitteltherapie älterer Menschen aufmerksam machen und ist als Hilfestellung für Ärzte und Apotheker gedacht. Deshalb werden nicht nur die riskanten Arzneistoffe und ihre möglichen Nebenwirkungen aufgelistet, sondern es werden unbedenkliche Alternativen genannt. Sollte sich die Anwendung des problematischen Wirkstoffs gar nicht vermeiden lassen, so erhält der Arzt konkrete Anleitungen, was nach der Gabe eines risikoreichen Medikaments in bestimmten Abständen zu kontrollieren ist, damit Nebenwirkungen rechtzeitig erkannt werden können.

Ungünstiger Medikamentenmix

Häufig ist es jedoch nicht ein einzelner Wirkstoff, der gefährliche Nebeneffekte verursacht, sondern das Zusammenwirken verschiedener Medikamente. "Die Patienten werden mit wilden Mischungen von Wirkstoffen behandelt, die sich teils in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben und teils Wechselwirkungen hervorrufen können, über die man kaum Kenntnisse hat", sagt Dr. Ulrich Thiem, Altersmediziner am Marienhospital Herne, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, und PRISCUS-Mitarbeiter. "Es gibt ein Dilemma, vor dem Ärzte bei der Behandlung älterer Patienten oft stehen: Bei Patienten, die mehrere chronische Erkrankungen gleichzeitig haben – wir sprechen von Multimorbidität –, kann man jede einzelne Erkrankung nicht ohne Rücksicht auf die anderen behandeln." Die Arbeitsgruppe um Dr. Thiem beschäftigt sich mit der Erstellung von Behandlungsleitlinien für typische Erkrankungskombinationen im Alter, also beispielsweise Leitlinien zur Behandlung von Arthrose mit gleichzeitigem Bluthochdruck oder von Diabetes mit gleichzeitiger Herzschwäche.

Prioritäten setzen

pillenDa man häufig nicht alle Erkrankungen eines multimorbiden Patienten gleichermaßen behandeln kann, muss man entscheiden, worauf der Schwerpunkt der Behandlung liegen soll. Dazu muss man wissen, was dem Patienten wichtig ist. "Wir fragen darüber hinaus, was diese Patienten sich vorrangig von einer Behandlung wünschen", erklärt Dr. Thiem. "Ein 80-jähriger Patient mit Bluthochdruck und Arthrose wünscht sich erfahrungsgemäß zuallererst, seinen Alltag weiterhin alleine bewältigen zu können. Dafür braucht er Schmerzmittel. Ob er Bluthochdruck hat, der auf mehrere Jahre hinaus sein Schlaganfallrisiko erhöht, ist ihm nicht so wichtig. Bei einem Patienten, der zugleich Herzschwäche hat, die Luftnot verursacht und ihm mitunter Todesangst macht, und Arthrose, die einen chronischen Schmerz ohne akutes Geschehen verursacht, ist vielleicht eher die Behandlung der Herzprobleme vordringlich." Generell zeigen die bisherigen Befragungen, dass ältere Leute vor allem Beschwerden behandelt wissen wollen, die sie im Alltag einschränken.

Risiko senken

Ein wichtiges Fazit aus den bislang vorliegenden Untersuchungen der verschiedenen PRISCUS-Projekte lautet: Jeder Arzt, der einem älteren Patienten ein Arzneimittel verordnet, ist zum einen gefordert, bei der Nutzen-Risiko-Abwägung des Medikamentes auch die altersspezifischen Besonderheiten seines Patienten zu berücksichtigen und die Dosierung entsprechend anzupassen. Zum anderen muss er sich einen Überblick über die Gesamtmedikation verschaffen. Dazu ist einmal mehr die fachübergreifende Zusammenarbeit aller behandelnden Ärzte gefragt. Der Patient kann ebenfalls seinen Beitrag dazu leisten. Er sollte eine Liste sämtlicher Medikamente, die er einnimmt, seinem Arzt vorlegen und im Falle von riskanten Wechselwirkungen mit ihm besprechen, welche Therapie Vorrang haben sollte.

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